BVerfG: Anrechnung von ersparten Aufwendungen von Arbeitnehmern in Kleinbetrieben

Beschäftigt der Arbeitgeber einen gekündigten Arbeitnehmer während des Kündigungsschutzverfahrens nicht fort, so hat der Arbeitgeber nach Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung die ausstehende Vergütung als Annahmeverzugslohn nachzuzahlen. Ersparte Aufwendungen, wie beispielsweise Fahrtkosten zum Arbeitsplatz, muss sich jedoch nur der Arbeitnehmer eines Kleinbetriebs anrechnen lassen. Das Bundesverfassungsgericht hält die gesetzliche Regelung hierzu für möglicherweise verfassungsgemäß.

Der Sachverhalt

Im Ausgangsverfahren streiten die Parteien, soweit hier von Bedeutung, nach einem rechtskräftigen Teilurteil über den Bestand des Arbeitsverhältnisses noch um Ansprüche der Klägerin gegen den Beklagten auf Zahlung von Arbeitsentgelt aus Annahmeverzug.

Die Klägerin war seit September 2004 als Buchhalterin beim Beklagten beschäftigt. Der Beklagte führt einen Kleinbetrieb im Sinne des § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG mit nicht mehr als zehn Arbeitnehmern. Er behauptete, er habe der Klägerin am 31. Oktober 2005 eine Kündigung zum 30. November 2005 ausgehändigt. Die Klägerin bestritt, die Kündigung erhalten zu haben, und beantragte vor dem Arbeitsgericht, festzustellen, dass das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien ungekündigt fortbestehe. Außerdem machte sie für die Zeit ab Dezember 2005 Vergütungsansprüche geltend. Das Arbeitsgericht gab dem Feststellungsantrag durch Teilurteil statt, weil der Beklagte den Zugang des Kündigungsschreibens nicht beweisen konnte. Dieses Urteil wurde rechtskräftig. Später beendeten die Parteien das Arbeitsverhältnis zum 30. November 2007. Im Streit blieben aber die Vergütungsansprüche der Klägerin. Das Arbeitsgericht sprach der Klägerin für den Zeitraum Dezember 2005 bis November 2007 teils Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, teils gemäß § 615 Satz 1 BGB Annahmeverzugslohn zu. Im Rahmen des Annahmeverzugslohns brachte es gemäß § 615 Satz 2 BGB die Fahrtkosten in Abzug, die sich die Klägerin dadurch erspart hatte, dass sie nicht von zu Hause zur Arbeitsstätte fahren musste. Für den gesamten Zeitraum ergab sich hierfür ein Abzug in Höhe von 2.617,50 €. Insoweit wurde die Klage erstinstanzlich abgewiesen.

Nachdem die Klägerin Berufung erhoben hatte, setzte das Landesarbeitsgericht den Rechtsstreit aus und legte dem Bundesverfassungsgericht zur verfassungsrechtlichen Prüfung die Frage vor, ob die Bestimmung des § 615 Satz 2 BGB, wonach sich der Arbeitnehmer im Falle des Annahmeverzugs auf die Vergütung das anrechnen lassen muss, was er infolge des Unterbleibens der Dienstleistung erspart, gegen Art. 3 des Grundgesetzes verstößt.

Die Entscheidung

Aus verschiedenen verfahrensrechtlichen Gründen hält das Bundesverfassungsgericht die Vorlage durch das Landesarbeitsgericht für unzulässig. Dennoch nimmt es zur Frage Stellung, ob es gegen das Gleichbehandlungsgebot des Artikel 3 GG verstößt, wenn Arbeitnehmer eines Kleinbetriebes den Annahmeverzugslohn während eines Kündigungsschutzverfahrens mit Kürzung um ersparte Aufwendungen erhalten, während Arbeitnehmern eines Betriebes mit mehr als zehn Arbeitnehmern diese Kürzung erspart bleibt.

Dreh- und Angelpunkt dieser Rechtsfrage ist § 23 Abs. 1 Satz 2 und 3 KSchG. Diese Norm sieht vor, dass unter anderem § 11 KSchG nur für Betriebe anwendbar ist, die mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigen. § 11 KSchG sieht keine Kürzung von Annahmeverzugslohn um ersparte Aufwendungen (z.B. Fahrtkosten zum Arbeitsplatz) vor. Diese Spezialnorm geht § 615 Satz 2 BGB vor, die ersparte Aufwendung vom Annahmeverzugslohn in Abzug bringt.

Das Bundesverfassungsgericht hatte also zu entscheiden, ob § 23 KSchG insoweit gegen Artikel 3 GG verstößt, als er nur für Arbeitnehmer außerhalb von Kleinbetrieben die Spezialnorm des § 11 KSchG zur Anwendung bringt und Arbeitnehmer in Kleinbetrieben auf § 615 Satz 2 BGB verwiesen bleiben sollen.

Das Bundesverfassungsgericht führt aus:

„In § 11 KSchG wird von einer Anrechnung ersparter Aufwendungen im Sinne des § 615 Satz 2 BGB im Anschluss an ein Kündigungsschutzverfahren abgesehen, um die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht durch Auseinandersetzungen über die Höhe des Annahmeverzugsentgelts zu belasten (…). Dieser Regelungszweck des § 11 KSchG kann auch in einem Kleinbetrieb Bedeutung erlangen, wenn der Arbeitnehmer des Kleinbetriebs die Kündigung des Arbeitgebers mit Erfolg angegriffen hat und das Arbeitsverhältnis möglichst konfliktfrei fortgesetzt werden soll.

Dennoch kann es unter Berücksichtigung des Regelungsspielraums des Gesetzgebers verfassungsrechtlich unbedenklich sein, das durch § 11 KSchG verfolgte Anliegen dann hinter das Interesse des Arbeitgebers an einer Anrechnung der ersparten Aufwendungen des Arbeitnehmers zurücktreten zu lassen, wenn es sich um einen Arbeitgeber eines Kleinbetriebs handelt, der typischerweise finanziell weniger leistungsstark und deshalb an einer Reduzierung der Lohnkosten besonders interessiert ist.“

(BVerfG, Beschluss vom 24.06.2010 – 1 BvL 5/10)

Praxistipp:

  • Arbeitnehmer können vom Arbeitgeber ausstehende Vergütung nachverlangen, wenn das Arbeitsgericht die ausgesprochene Kündigung für unwirksam erklärt hat (Annahmeverzugslohn).
  • Auf den Annahmeverzugslohn ist jeder Verdienst anzurechnen, den der Arbeitnehmer in diesem Zeitraum anderweitig erzielt hat oder böswillig zu erzielen unterlassen hat.
  • Arbeitnehmer in Kleinbetrieben müssen zusätzlich hinnehmen, dass vom Annahmeverzugslohn zusätzlich ersparte Aufwendungen, wie beispielweise Fahrtkosten, abgezogen werden.
  • Das Interesse an einer belastungsfreien Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses durch Vermeidung der Berechnung ersparter Aufwendungen kann im Kleinbetrieb zurücktreten hinter das wirtschaftliche Interesse des finanziell nicht so leistungsfähigen Unternehmers.