BAG: Diskriminierungsverbot wegen Behinderung vor Inkrafttreten des AGG

Schon vor Inkrafttreten des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) hatten Schwerbehinderte und Gleichgestellte im Sinne des SGB IX einen Anspruch auf Entschädigung, wenn sie als Stellenbewerber diskriminiert wurden. Das gilt nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts auch für Beschäftigte mit einem Grad der Behinderung von unter 50.

Das in § 81 Abs. 2 SGB IX in der bis 17. August 2006 geltenden Fassung enthaltene Diskriminierungsverbot schützt nur schwerbehinderte Beschäftigte mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50, (§§ 2 Abs. 2, 68 Abs. 1 SGB IX) sowie Gleichgestellte (§§ 2 Abs. 3, 68 Abs. 1 SGB IX). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes erfasst der Begriff „Behinderung“ iSd. Richtlinie 2000/78/EG vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dagegen jede Einschränkung, die auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist und die ein länger andauerndes Hindernis für die Teilhabe am Berufsleben bildet. § 81 Abs. 2 SGB IX war bis zum Inkrafttreten des AGG daher europarechtskonform anzuwenden.

In dem vom Senat entschiedenen Rechtsstreit hatte die Klägerin eine Umschulung zur Industriekauffrau absolviert. Das Versorgungsamt stellte Anfang 1994 wegen der bei ihr bestehenden Neurodermitis einen Grad der Behinderung von 40 fest. Einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen hat die Klägerin nicht gestellt. In den Jahren 1995 bis 2003 stand sie in einem Arbeitsverhältnis. In dieser Zeit war sie wegen Neurodermitis nicht arbeitsunfähig erkrankt. Im Oktober 2003 bewarb sich die Klägerin beim beklagten Land als Angestellte für den Bereich der Parkraumbewirtschaftung. An den Anstellungsprüfungen nahm sie mit Erfolg teil. Bei der sich anschließenden ärztlichen Untersuchung legte sie den Bescheid des Versorgungsamtes vor. Darauf teilte das beklagte Land ihr mit, dass sie wegen Neurodermitis für die Tätigkeit nicht geeignet und ihre Bewerbung deshalb erfolglos sei.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin eine Entschädigung auf Grund der Benachteiligung wegen ihrer Behinderung verlangt. Das Arbeitsgericht hat das beklagte Land zu einer Entschädigung in Höhe von 12.000 Euro verurteilt. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.

Der Senat hat das Urteil des Landesarbeitsgerichts aufgehoben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Im Gegensatz zum Landesarbeitsgericht geht der Senat davon aus, dass die Richtlinie im Hinblick auf das Merkmal „Behinderung“ bis zum 18. August 2006 nicht umgesetzt war. Das Landesarbeitsgericht wird zu entscheiden haben, ob das beklagte Land darlegen und beweisen kann, dass eine bestimmte körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit wesentliche und entscheidende Anforderung für die Tätigkeit der Klägerin im Bereich der Parkraumbewirtschaftung ist und dass diese Voraussetzungen bei der Klägerin nicht vorliegen.

(Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts Nr. 24/07; Urteil vom 3. April 2007 – 9 AZR 823/06)

Praxistipp:

  • Der vom EuGH definierte Behindertenbegriff ist nicht identisch mit dem des deutschen Schwerbehindertenrechts (SGB IX).
  • Für Fälle bis zum 13.8.2006 ist § 81 Absatz 2 SGB IX europarechtskoform auszulegen.
  • Der Arbeitgeber hat im Falle der Benachteiligung einen Rechtfertigungsgrund darzulegen und zu beweisen.
  • Auch Stellenbewerber mit einem Behinderungsgrad von weniger als 50 sind insoweit vor Diskriminierung geschützt.
  • Für Fälle ab dem 14.8.2006 verweist diese Vorschrift auf das AGG, das den Behindertenbegriff nun deutlich enger fasst.