LAG Rheinland-Pfalz: Bei einer Krankmeldung nach einem Streit mit dem Arbeitgeber ist nicht ohne weiteres auf eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit zu schließen

Der Beweiswert einer von einem Arbeitnehmer vorgelegten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wird nicht dadurch erschüttert, dass der Arbeitnehmer nach einem heftigen Streit mit dem Arbeitgeber seinen Arbeitsplatz verlässt und am folgenden Tag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einreicht.

Der Sachverhalt

Die Klägerin war seit dem 21.06.2007 bei dem Beklagten in dessen Steuerberatungsbüro als Steuerfachangestellte beschäftigt. Am 01.09.2008 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis ordentlich zum 30.09.2008. Am 02.09.2008 kam es zwischen der Klägerin und dem Beklagten zu einem heftigen Streit. Der Beklagte wies die Klägerin dann an, eine Liste ihrer regelmäßigen Aufgaben zu erstellen. Nachdem die Klägerin dieser Anweisung nachgekommen war, forderte der Beklagte sie auf, für ein Gespräch mit ihm in seinem Arbeitszimmer Platz zu nehmen. Die Klägerin verweigerte dies mit dem Hinweis, es sei ihr schlecht und sie gehe deswegen jetzt zum Arzt. Nachdem sie die Büroschlüssel auf einem Bürotisch hinterlassen hatte, verließ die Klägerin das Steuerberatungsbüro des Beklagten. In der Folgezeit reichte die Klägerin für den Zeitraum vom 02.09.2008 bis zum 30.09.2008 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein.

Mit Schreiben vom 02.09.2008 teilte der Beklagte der Klägerin mit, er werte ihre Weigerung für ein Gespräch in seinem Arbeitszimmer zu bleiben und das Hinterlassen der Schlüssel auf seinem Tisch als fristlose Kündigung der Klägerin, die er hiermit akzeptiere. Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 08.09.2008 wies die Klägerin darauf hin, eine fristlose Kündigung sei ihrerseits nicht ausgesprochen worden. Mit Schreiben vom 11.09.2008 kündigte der Beklagte das Arbeitsverhältnis daraufhin wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit sowie Arbeitsverweigerung fristlos. Die der Klägerin erteilte Entgeltabrechung für den Monat September 2008 benannte als Austrittsdatum den 01.09.2008 und wies 63,33 Euro Gehalt und 779,11 Euro Urlaubsabgeltung aus.

Mit ihrer Klage begehrte die Klägerin die Feststellung, dass ihr Arbeitsverhältnis durch die fristlose Kündigung des Beklagten vom 11.09.2008 nicht beendet worden ist, sondern bis zum 30.09.2008 fortbestanden hat. Außerdem begehrte sie eine Verurteilung des Beklagten zur Zahlung des restlichen September-Gehalts.

Die Entscheidung

Die Klage hatte sowohl vor dem Arbeitsgericht als auch vor dem Landesarbeitsgerichts Erfolg. Das Arbeitsverhältnis wurde durch die fristlose Kündigung des Beklagten nicht wirksam gekündigt. Mit der Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat die Klägerin zunächst ihre Arbeitsunfähigkeit nachgewiesen. Dem Beklagten ist es nicht gelungen, begründete Zweifel an dem Beweiswert der ärztlichen Bescheinigung aufzuzeigen und dadurch ihren Beweiswert zu erschüttern. Damit liegt in der vom Beklagten behaupteten Vortäuschung der Arbeitsunfähigkeit kein hinreichender Kündigungsgrund. Es ist durchaus möglich, dass gerade der Streit Auslöser einer zur Arbeitsunfähigkeit führenden Erkrankung gewesen ist. Daher spricht die Mitteilung der Klägerin, dass ihr schlecht sei, kurz vor Verlassen des Arbeitsplatzes keineswegs dagegen, dass sie sich zu diesem Zeitpunkt tatsächlich schlecht gefühlt hat. Daran ändert auch die Behauptung des Beklagten, dass die Klägerin bis zu dem Streit arbeitsfähig war, nichts.

Des Weiteren ist die außerordentliche Kündigung auch nicht wegen der vom Beklagten behaupteten Arbeitsverweigerung gerechtfertigt. Auch wenn die Klägerin bereits bei Verlassen des Arbeitsplatzes vorgehabt hätte, bis zum 30.09.2008 nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen, hätte der Beklagte dieses Verhalten abmahnen müssen. Da die Klägerin den Arbeitsplatz in einer emotional aufgeladenen Situation verlassen hat, ist hierin keine Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zu sehen.

(LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 08.09.2009 – 1 Sa 230/09)

Praxistipp:

  • Die Entscheidung zeigt erneut, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen hohen Beweiswert genießt, der nur durch begründete Zweifel – woran hohe Anforderungen zu stellen sind – erschüttert werden kann.
  • Im Gegensatz zum Urteil des Hessischen LAG vom 01.04.2009 (6 Sa 1593/08) konnte der Arbeitgeber hier keine begründeten Zweifel darlegen.
  • Noch schwieriger ist es, den Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu erschüttern. Während bei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus Deutschland und aus Nicht-Mitgliedsstaaten der Europäischen Union begründete Zweifel ausreichen, entfällt die Entgeltfortzahlungsverpflichtung des Arbeitgebers bei Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus Mitgliedsstaaten der EU erst, wenn man nachweisen kann, dass der Arbeitnehmer sich missbräuchlich oder betrügerisch hat krankschreiben lassen. Ansonsten gilt eine unwiderlegliche Vermutung für die Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung.
  • Verweigert ein Arbeitnehmer trotz Abmahnung die ihm obliegende Arbeit, so kann dies grundsätzlich eine ordentliche oder außerordentliche Kündigung rechtfertigen.
  • Eine außerordentliche Kündigung setzt jedoch in der Regel eine sog. beharrliche Arbeitsverweigerung voraus, d.h. es wird eine gewisse Nachhaltigkeit im Willen des Arbeitnehmers vorausgesetzt.
  • Dagegen ist ein Arbeitnehmer berechtigt, Arbeiten abzulehnen, die der Arbeitgeber ihm unter Überschreitung seines Direktionsrechts oder des damit verbundenen Ermessensspielraums nach Art, Zeit und Ort zuweist.