BAG: Sonderkündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen

Arbeitnehmer, die im Zeitpunkt der Kündigung noch nicht als Schwerbehinderte anerkannt oder einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt sind, können sich nur dann auf den Sonderkündigungsschutz berufen, wenn der Antrag auf Anerkennung oder der Gleichstellungsantrag mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung gestellt wurde.

Der Sachverhalt

Die Klägerin war seit 1995 bei der Beklagten als Arbeiterin beschäftigt. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin am 06. Dezember 2004, ohne zuvor die Zustimmung des Integrationsamtes eingeholt zu haben. Kurz zuvor am 03. Dezember 2004 hatte die Klägerin bei der zuständigen Behörde einen Antrag auf Gleichstellung mit einem schwerbehinderten Menschen gestellt. Dem Antrag wurde im April 2005 rückwirkend zum 03. Dezember 2004 stattgegeben.

Im Kündigungsschutzprozess machte die Klägerin die Unwirksamkeit der Kündigung geltend, da sie bereits am 06. Dezember 2004 – und damit zum Zeitpunkt der Kündigung – rückwirkend gleichgestellt gewesen sei. Damit habe sie den Sonderkündigungsschutz nach § 85 SGB IX in Anspruch nehmen können, so dass es an der Zustimmung des Integrationsamtes fehle.

Die Beklagte hält an der Wirksamkeit der Kündigung fest und beruft sich darauf, dass die Zustimmung des Integrationsamtes vor Kündigungsausspruch nach § 90 Abs. 2a SGB IX nicht erforderlich gewesen sei, da die Klägerin ihren Gleichstellungsantrag lediglich 3 Tage vor Ausspruch der Kündigung gestellt habe.

Die Entscheidung

Das BAG hat die Klage abgewiesen. Nach § 90 Abs. 2a SGB IX hätte die Klägerin Ihren Gleichstellungsantrag mindestens drei Wochen vor der Kündigung stellen müssen. Damit stand der Klägerin, obwohl sie rückwirkend bei Ausspruch der Kündigung einem schwerbehinderten Menschen gleichgestellt war, kein Sonderkündigungsschutz zu.

Das Gericht hat zunächst klargestellt, dass die Vorschrift des § 90 Abs. 2a SGB IX nicht nur für schwerbehinderte Menschen, sondern auch für Ihnen nach § 68 SGB IX gleichgestellte behinderte Menschen gilt.

Nach § 90 Abs. 2a 1. Alt. SGB IX findet der Sonderkündigungsschutz zunächst deshalb keine Anwendung, weil die Gleichstellung im Zeitpunkt der Kündigung noch nicht nachgewiesen war.

Aber auch nach § 90 Abs. 2a 2. Alt. SGB IX scheidet eine Berufung der Klägerin auf den Sonderkündigungsschutz aus. Danach sind die Vorschriften des Sonderkündigungsschutzes nur dann anwendbar, wenn das Fehlen des Nachweises der Schwerbehinderung oder Gleichstellung nicht auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers beruht. Das ist dann der Fall, wenn der Antrag auf Anerkennung der Schwerbehinderung oder Gleichstellung mindestens drei Wochen vor der Kündigung gestellt wurde. § 90 Abs. 2a 2. Alt. enthält insoweit die Bestimmung einer Vorfrist.

Da die Klägerin ihren Gleichstellungsantrag vorliegend erst am 3. Dezember 2004 und damit nur wenige Tage vor Zugang der Kündigung am 07. Dezember 2004 gestellt hat, kann sie sich nicht auf den Sonderkündigungsschutz berufen.

(BAG Urteil vom 01.03.2007, 2 AZR 217/06)

Praxistipp:

  • Mit dieser Entscheidung hat das Bundesarbeitsgericht einen seit Einfügung des § 90 Abs. 2a SGB IX in das Gesetz bestehenden Streit um dessen Auslegung beendet, der aufgrund des missverständlichen Wortlauts der Vorschrift entstanden ist.
  • Damit wurde der Intention des Gesetzgebers, mit Erlass dieser Vorschrift missbräuchlichen Erschwerungen von Kündigungen zu begegnen, Rechnung getragen.
  • Nach zuvor geltender Rechtslage war Voraussetzung des Sonderkündigungsschutzes lediglich, dass irgendwann vor Zugang der Kündigung ein entsprechender Antrag auf Anerkennung oder Gleichstellung gestellt war. Sofern der Antrag positiv beschieden wurde, trat der Sonderkündigungsschutz rückwirkend mit dem Tag der Antragstellung ein.
  • Dies veranlasste zahlreiche Arbeitnehmer ein Verfahren über die Anerkennung einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung nur mit dem Ziel einzuleiten, die Regelungen über den Sonderkündigungsschutz für die Zeit des Verfahrens in Anspruch nehmen zu können.
  • Um als Arbeitgeber nicht Gefahr zu laufen, dass auch nach jetziger Rechtslage ein rückwirkender Sonderkündigungsschutz greift, der die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge hätte, sollte mit dem Ausspruch der Kündigung nach Bekanntwerden der Kündigungsabsicht – etwa durch die Durchführung der Anhörung des Betriebsrates oder eines vorgelagerten Gesprächs mit dem Arbeitnehmer – nicht zu lange gewartet werden.
  • Geht eine Kündigung dem Arbeitnehmer vor Ablauf von drei Wochen seit Antragstellung zu, bedarf es auch bei auf den Zeitpunkt der Antragstellung rückwirkender Anerkennung einer Schwerbehinderung oder Gleichstellung keiner Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung.