EuGH: Verbot der Diskriminierung wegen Betreuung eines behinderten Kindes

Erfährt ein Arbeitnehmer, der selbst nicht behindert ist, aber Pflegeleistungen für sein behindertes Kind erbringt, aufgrund dieser Situation eine Benachteiligung durch den Arbeitgeber, so verstößt diese Behandlung gegen das in der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG enthaltene Diskriminierungsverbot. Damit ist das Diskriminierungsverbot nicht nur auf Arbeitnehmer mit eigener Behinderung beschränkt.

Der Sachverhalt

Die Klägerin war seit Anfang 2001 als Anwaltssekretärin für eine Anwaltskanzlei in London tätig. Im Jahr 2002 gebar sie ein behindertes Kind, dessen Gesundheitszustand eine spezialisierte und besondere Pflege erfordert, die im Wesentlichen von ihr geleistet wird. Im Frühjahr 2005 stimmte sie einer freiwilligen Entlassung zu, wodurch der Arbeitsvertrag mit ihrem ehemaligen Arbeitgeber beendet wurde. Wenige Monate später reichte sie beim zuständigen Arbeitsgericht in London Klage ein. Sie trägt vor, dass sie wegen der Tatsache, dass sie Hauptbetreuerin eines behinderten Kindes sei, Opfer einer erzwungenen sozialwidrigen Kündigung geworden zu sein, weil sie aufgrund der Behinderung ihres Kindes eine weniger günstige Behandlung als die anderen Arbeitnehmer erfahren habe. Aus diesem Grund sei sie gezwungen gewesen, das Arbeitsverhältnis zu beenden.

Die Klägerin stützte ihre Klage auf mehrere Vorkommnisse, die ihrer Ansicht nach eine Diskriminierung oder Belästigung im Sinne der Gleichbehandlungsrichtlinie 200/78/EG darstellten, da Eltern nicht behinderter Kinder unter vergleichbaren Umständen anders behandelt worden seien. So habe sie nach der Rückkehr aus dem Mutterschaftsurlaub nicht an ihren früheren Arbeitsplatz zurückkehren dürfen. Außerdem sei sie in Bezug auf flexible Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen schlechter als ihre Kollegen ohne behinderte Kinder behandelt worden. Schließlich habe sie noch verletzende Bemerkungen in Bezug auf sich oder ihr behindertes Kind ertragen müssen. Eine diesbezügliche offizielle Beschwerde wurde nicht sachgemäß behandelt, so dass sie sie zurückziehen musste.
Das Arbeitsgericht setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: Ist die Richtlinie 2000/78/EG so auszulegen, dass sie nicht nur eine Diskriminierung oder Belästigung wegen einer eigenen Behinderung des Arbeitnehmers verbietet, sondern auch für Arbeitnehmer gilt, die wegen einer Behinderung ihres Kindes benachteiligt werden, für das sie im Wesentlichen die Pflegeleistungen erbringen, die der Zustand des Kindes erfordert?

Die Entscheidung

Der EuGH hat die Frage bejaht und klar gestellt, dass das in der Richtlinie 2000/78/EG enthaltene Verbot der Diskriminierung oder Belästigung von Arbeitnehmern mit Behinderung seinem Sinn und Zweck nach auch für Arbeitnehmer gilt, die wegen der Behinderung ihres Kindes diskriminiert oder belästigt werden.

Er führt an, dass die Richtlinie den Gleichbehandlungsgrundsatz dahingehend definiert, dass es keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung unter anderem wegen einer Behinderung geben darf und dass sie für alle Personen in Bezug auf die Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen – einschließlich der Entlassungsbedingungen und des Arbeitsentgeltes – gilt. Die Tatsache, dass die Richtlinie einige Bestimmungen enthält, durch die speziell den Bedürfnissen behinderter Menschen Rechnung getragen werden soll, darf nicht zu einer restriktiven Auslegung des Gleichbehandlungsgrundsatzes dergestalt führen, dass nur ausschließlich Menschen mit eigener Behinderung diskriminiert und damit betroffen sein können. Die Richtlinie verfolgt nämlich das Ziel, jede Form der Diskriminierung zu bekämpfen. Damit gilt sie nicht nur für eine bestimmte Kategorie von Personen, sondern in Bezug auf die Natur der Diskriminierung wegen bestimmter Merkmale.

Erfährt folglich ein Arbeitnehmer, der nicht selbst behindert ist, durch seinen Arbeitgeber eine weniger günstige Behandlung als ein Arbeitnehmer in einer vergleichbaren Situation und ist nachgewiesen, dass die Benachteiligung des Arbeitsnehmers wegen der Behinderung seines Kindes erfolgt ist, für das er im Wesentlichen die nötigen Pflegeleistungen erbringt, so verstößt eine solche Behandlung gegen das Diskriminierungsverbot.

(EuGH, Urteil vom 17.07.2008, C-303/06)

Praxistipp:

  • Die Richtlinie 2000/78/EG wird hier durch den EuGH weit ausgelegt. Damit soll sichergestellt werden, dass die Richtlinie größtmögliche praktische Wirksamkeit entfaltet. Eine Auslegung, die lediglich auf Personen beschränkt wäre, die selbst behindert sind, würde den Schutz, den die Richtlinie gewährleisten soll, mindern.
  • Die Richtlinie 2000/78/EG ist in Deutschland seit dem 18. August 2006 durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) in nationales Recht umgewandelt worden. Die Aussage des EuGH ist damit bei der Auslegung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes zu berücksichtigen.
  • Für die Geltendmachung eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot gilt eine abgestufte Darlegungs- und Beweislast.
  • Der Arbeitnehmer muss zunächst Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer Diskriminierung vermuten lassen.
  • Gelingt ihm dies, ist es Sache des Arbeitsgebers, zu beweisen, dass er den Gleichbehandlungsgrundsatz nicht verletzt hat.