EuGH: Auch vor dem 25. Lebensjahr liegende Beschäftigungszeiten müssen bei der Berechnung der Kündigungsfrist berücksichtigt werden

In der Regelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB, wonach vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten des Arbeitsnehmers unberücksichtigt bleiben, liegt ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht. Es handelt sich um eine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters. Auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten ist diese Vorschrift unangewendet zu lassen.

Der Sachverhalt

Seit ihrem 18. Lebensjahr war die Klägerin des Ausgangsverfahrens, Frau Kükükdeveci, bei dem Beklagten beschäftigt. Als dieser das Arbeitsverhältnis zehn Jahre später mit einer Frist von einem Monat kündigt, macht die Klägerin geltend, dass für die Berechnung der Kündigungsfrist entgegen § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch die vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegenden Beschäftigungszeiten zu berücksichtigen seien. Das habe zur Folge, dass eine Kündigungsfrist von vier Monaten gelte.

Das als Berufungsgericht mit der Sache befasste LAG Düsseldorf setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage zur Vorabentscheidung vor. Der EuGH sollte entscheiden, ob § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sei und welche Folgen sich aus einer etwaigen Unvereinbarkeit ergäben. Der EuGH beurteilte die Vorschrift als gemeinschaftsrechtswidrig.

Die Entscheidung

Nach Ansicht des EuGH werden in jungen Jahren in den Betrieb eingetretene Arbeitnehmer gegenüber anderen Altersgruppen benachteiligt, indem vor Vollendung des 25. Lebensjahres liegende Beschäftigungszeiten bei der nach der Dauer der Betriebszugehörigkeit gestaffelten Kündigungsfristen nicht berücksichtigt werden. Damit verstößt § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB gegen das Verbot der Diskriminierung wegen Alters im Sinne der Richtlinie 2000/78.

Zwar erlaubt diese Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen eine Ungleichbehandlung wegen des Alters, z.B. wenn diese durch ein legitimes Ziel aus den Bereichen Beschäftigungspolitik, Arbeitsmarkt oder berufliche Bildung gerechtfertigt ist und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich sind. Diese Voraussetzungen sind hier aber nicht erfüllt.

Arbeitgebern sollte mit dem § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB im Hinblick auf jüngere Arbeitnehmer, denen eine größere berufliche und persönliche Mobilität zuzumuten ist, eine größere personalwirtschaftliche Flexibilität verschafft werden. Da die Regelung jedoch unabhängig davon, wie alt der vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den Betrieb eingetretene Arbeitnehmer im Zeitpunkt der Kündigung ist, gilt, können hiervon auch ältere Arbeitnehmer betroffen sein. Damit stellt diese Regelung keine angemessene Maßnahme zur Erreichung des grundsätzlich legitimen Ziels dar.

(EuGH, Urteil vom 19.01.2010, C-555/07)

Praxistipp:

  • Die deutschen Gerichte müssen § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB auch in einem Rechtsstreit zwischen Privaten unangewendet lassen. Zwar können sich Einzelne nicht unmittelbar auf die Vorschriften einer Richtlinie berufen. Die Richtlinie 2000/78 konkretisiert mit dem Verbot der Diskriminierung wegen des Alters aber nur einen allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts.
  • Da die Tarifvertragsparteien in zahlreichen Fällen die Regelung des § 622 BGB in ihre Tarifverträge übernommen haben, ist die vorliegende Entscheidung des EuGH nicht nur von Gerichten und Arbeitgebern, sondern auch von den Tarifvertragsparteien zu beachten.
  • Antidiskriminierungsrecht gewinnt im Arbeitsrecht aufgrund europäischer Rechtsentwicklung immer mehr an Bedeutung. Arbeitgebern ist daher zu empfehlen, bei ihren Regelungswerken einem möglichen Diskriminierungsaspekt größere Aufmerksamkeit zu schenken.